Wären Spenden an wohltätige und gemeinnützige Organisationen ein Indiz für Tugendhaftigkeit, müssten wir in einer außergewöhnlich tugendhaften Zeit leben. Noch nie wurde mehr an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gespendet als heute. Ein großer Teil der Aktivitäten im Bereich der humanitären Hilfe oder des Umweltschutzes werden im öffentlichen Bewusstsein mehr mit NGOs – „Nonprofits“ in den USA – in Verbindung gebracht als mit politischen Parteien oder Regierungsprogrammen. Es war ein langer Weg bis zu diesem Punkt.
Wohltätige und gemeinnützige Organisationen existieren seit Jahrhunderten, und es gab sie in den Zeiten historischer Seuchen und Katastrophen genauso wie während der Industrialisierung und des Kolonialismus. Mitte des letzten Jahrhunderts fanden sie zu etwas wie einem vorläufigen Konsens, zumindest in den reichen Ländern: Ihre Aufgabe sei es, so hieß es damals, anders zu sein als schwerfällige staatliche Bürokratien oder geldgierige transnationale Konzerne, nämlich klein, bescheiden, menschenfreundlich und verantwortungsbewusst, risikobereit und innovativ. Sie müssten aufdecken, herausfordern, Partei ergreifen, bewusstseinsverändernd wirken, Lücken füllen und aufzeigen, was getan werden könnte. Schließlich würden sie sich selbst unnötig machen – weil etwa ein Heilmittel gegen Krebs gefunden, die Armut ausgerottet und die Umwelt endgültig gerettet würde.
Zwar schreiben wir ein neues Jahrhundert, ja sogar Jahrtausend, doch nur wenige dieser Organisationen haben sich bisher freiwillig aufgelöst. Ganz im Gegenteil, einige wenige – fast alle aus den reichen Ländern, insbesondere aus den USA – haben ihren Tätigkeitsbereich auf die ganze Welt ausgeweitet und sind dermaßen groß geworden, dass sie nun als eigene Subspezies bekannt sind: als „big international non-governmental organizations“, kurz „Bingos“.
Was diese Bingos heute bezwecken, ist jedoch nicht ganz klar. Einmal ist es vielleicht verwunderlich, aber doch Tatsache, dass praktisch niemand, der sich das aussuchen kann, zum Objekt karitativer Hilfe werden will. Die meisten setzen alle Hebel in Bewegung, um etwas zu vermeiden, was sie nach wie vor als Erniedrigung empfinden. Wer jedoch dahinsiecht, am Verhungern ist oder von einer Naturkatastrophe betroffen, hatte wahrscheinlich kaum eine Möglichkeit, das zu verhindern – keine Handlungsfähigkeit. Nur wenige verhungern in einer Gesellschaft, die wenigstens ansatzweise einer Demokratie ähnelt. Leiden, das durch vermeidbare oder heilbare Krankheiten verursacht wird, ist per definitionem vermeidbar. Ein Tsunami, der – nach einer gewissen Vorwarnzeit – die Betonbauten in Seattle oder Tokio treffen wird, droht eine Katastrophe einer ganz anderen Natur auszulösen als ein Tsunami, der ohne jede Vorwarnung die zerbrechlichen Hütten von Banda Aceh (Indonesien) oder Galle (Sri Lanka) verwüstet.
Werden Menschen also von vermeidbaren Hungersnöten, vermeidbaren Krankheiten oder vorhersagbaren Katastrophen in Mitleidenschaft gezogen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach zuvor etwas geschehen – ihre Handlungsfähigkeit muss ihnen genommen worden sein. Und wenn es auch nicht wohltätige Organisationen waren, die sie ihnen genommen haben, tragen sie doch dazu bei, Menschen daran zu hindern, diese Handlungsfähigkeit wieder zurückzugewinnen – vielleicht nicht mit Absicht, aber sie tun es.
Dass mehr Geld für wohltätige Zwecke gespendet wird, heißt übrigens nicht, dass die Welt hilfsbereiter geworden wäre. Es könnte auch sein, dass immer weniger Menschen immer mehr überschüssige Mittel akkumuliert haben, und zwar auf Kosten einer wachsenden Zahl anderer, die vom Elend bedroht sind – womöglich noch als direkte Folge des ersteren Prozesses. Aus Sicht der SpenderInnen besteht der große Vorteil wohltätiger Organisationen darin, dass sie von Rechts wegen ihren „Begünstigten“ nicht rechenschaftspflichtig sein dürfen. Rechenschaft schulden sie nur ihren SpenderInnen. Unvermeidbare Folge ist, dass jenen Handlungsfähigkeit entzogen wird, denen ihre Tätigkeit nützen soll.
Wohltätige Organisationen können auch nicht alle gleichermaßen begünstigen; sie müssen zu Fachleuten in Sachen Diskriminierung werden: zwischen den Attraktiven und den Unsympathischen, den Unglücklichen und den Hoffnungslosen, den Bedürftigen und den Nicht-Bedürftigen. Ihre MitarbeiterInnen laufen Gefahr, einer heimtückischen Korrumpierung zu erliegen, weil sie dauernd von BittstellerInnen belagert werden oder insgeheim für das nächste Unglück in den Schlagzeilen beten, das die Kassen der Wohltätigkeit füllt. Unter solchen Umständen kann der „humanitäre Imperativ“ wie ein Geier seine Kreise ziehen, den Blick stets auf die Symptome, weniger auf die Ursachen gerichtet, stets auf Ausschau nach unwiderlegbaren Beweisen einer verzweifelten menschlichen Notlage.
Der Kontext spielt eine Rolle, und der ist derzeit nicht ganz klar. Einerseits hat die größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken auch die größte Reaktion in der Geschichte der humanitären Hilfe ausgelöst, den Hilfsappell für die Opfer des Tsunami in Asien. Nicht lange danach schaffte es ein internationales Bündnis von Bingos, die Spitzen der Weltpolitik beim G8-Gipfel in Schottland zu einem Tribut an die „Make Poverty History“-Kampagne zu bewegen. Die Hälfte der Weltbevölkerung soll die Live8-Konzerte gesehen haben. Zweifellos: Hier stand das humanitäre Antlitz der Globalisierung im vollen Rampenlicht. Aber wie hätte „Make Poverty History“ irgendjemanden ernsthaft glauben machen können, dass die G8 – ein Inbegriff der Vermögens- und Machtkonzentration – Armut und Ungerechtigkeit beseitigen könnte? Wenn schon Band Aid kaum etwas für Afrika gebracht hat, warum es dann in Gestalt von Live8 fast exakt 20 Jahre später wiederholen, wenn auch mit einer eher „politischen“ als „karitativen“ Absicht?
Bingos müssen zweifellos einen Teil der Verantwortung übernehmen, sowohl für das Negative wie das Positive. Aber die meisten werden das wahrscheinlich nicht tun. Sie sind zu mächtigen, selbstgerechten Organisationen geworden. Ihre Umsätze und ihre Aktiva belaufen sich heute auf hunderte Millionen, sogar Milliarden US-Dollar. Sie beschäftigen tausende MitarbeiterInnen in dutzenden Ländern. Ihre Chefs erhalten „angemessene Bezüge“. Harold Decker, President des American Red Cross, erhielt eine Abfertigung von mehr als einer Million Dollar; Steven E. Sanderson, Geschäftsführer der Wildlife Conservation Society, bezieht ein jährliches Gehalt von mehr als einer halben Million Dollar1. Komplexe Finanzinstrumente sind heute nötig, um ihr wachsendes Geldvermögen gewinnbringend zu veranlagen. Autoritäre, hierarchische Strukturen überwiegen. In deklariert „unternehmerischen“ Organisationskulturen sind Effizienz und Professionalität wichtiger als Engagement und Verständnis. Markenpolitik ist alles. Image ist unbezahlbar. Wachstum ist gut. Nach und nach verschmelzen die Interessen der Institution mit denen ihrer „Stakeholder“ und „Kunden“ – damit alle zusammen in vollster Zufriedenheit expandieren können, der Größe oder den Zahlen nach, je nach Bedarf.
Dieser Prozess verlief ziemlich rasch, besonders im vergangenen Jahrzehnt. Die Zahl der bei den Vereinten Nationen vertretenen Bingos nahm zwischen 1992 und 2004 um mehr als das Dreifache zu2. In Großbritannien wuchs der Anteil der Spenden der größten gemeinnützigen Organisationen von 1998 bis 2004 von 41% auf 45%3. Die Kleineren spüren den Druck, drohen sogar unterzugehen, weil viele SpenderInnen – besonders Unternehmen – auf die Tsunami-Hilfe mit ihrem größeren, besseren Profil umgestiegen sind. In Australien entfielen 2003 mehr als 40% der für Entwicklungszusammenarbeit gespendeten Mittel auf eine einzige Organisation, World Vision.4
Neu ist nicht nur, dass Bingos Unternehmen immer ähnlicher werden. Einige der NGOs wie der World Wide Fund for Nature (WWF), die mitgeholfen haben, Umweltschutz auf die politische Tagesordnung zu bringen, üben nun selbst enormen Einfluss aus. Vielleicht erklärt der Umstand, dass sie sich weniger an humanitäre als an – manchmal menschenfeindliche – „Umweltimperative“ gebunden fühlen, dass sie sich als erste auf Bündnisse mit transnationalen Konzernen eingelassen haben (siehe Artikel S. 41). Mittlerweile hat die weltweite Verbreitung der neoliberalen Orthodoxie, insbesondere in Gestalt der Privatisierung, neue Territorien für Bingos eröffnet. In Bangladesch hat die Entwicklungshilfe einen Staat entstehen lassen, in dem große Bereiche öffentlicher Dienstleistungen wie in einem Franchise-System von Bingos erbracht werden. In Kambodscha wurde beinahe das gesamte Gesundheitswesen an Bingos „ausgelagert“. Ein Symptom eines „gescheiterten Staates“ oder vielmehr der Grund für das Scheitern des Staates in Kambodscha? Das ist umstritten.5
Hier begegnet uns das vertrautere, nicht so freundliche Antlitz der Globalisierung. Und für manche ähneln viele Bingos heute den geldgierigen transnationalen Konzernen, die sie oft ziemlich bewusst nachgeahmt haben. Ende Mai brachte das linksgerichtete britische Magazin „New Statesman“ eine Covergeschichte unter dem Titel „Why Oxfam is failing Africa“, während „Red Pepper“, noch weiter links, im Juli ein neues „Scramble for Africa“6 ankündigte. Beide berichteten, dass Oxfam, bei weitem die größte britische Entwicklungs-NGO, versucht hätte, die „Make Poverty History“-Kampagne auf eine Linie mit Tony Blairs unternehmensfreundlicher „New Labour“-Regierung zu bringen. In anderen linken Publikationen wurden Bingos beschuldigt, einen „neuen Typ des kulturellen und wirtschaftlichen Imperialismus“ zu fördern oder so etwas wie „trojanische Pferde des globalen Neoliberalismus“ zu sein.
Weniger vorhersehbar war der Angriff der neoliberalen Rechten. Im Frühjahr erschien im US-Magazin „The National Interest“ ein giftiger Artikel, der das einst sakrosankte Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) aufs Korn nahm – die Hüterin der Genfer Kriegsrechtskonventionen und eine der größten Bingos überhaupt.7 Der Vorwurf: Das ICRC habe sich „während eines Kriegs, in dem amerikanische ZivilistInnen das bevorzugte Ziel des Feindes“ seien, „fortwährend gegen die amerikanische Politik gestellt [insbesondere in Guantanamo]“ – obwohl, so das Lamento, die US-Regierung das ICRC jährlich mit 200 Mio. Dollar unterstütze.
Bereits im Juni 2003 organisierten das australische Institute for Public Affairs und das American Enterprise Institute eine Konferenz mit dem Titel: „Non-Governmental Organizations: The Growing Power of an Unelected Few“. Die Konferenz führte zur Gründung der Website „www.ngowatch.org“, die, als Spottbild auf die vielen „Watch“-Sites von NGOs, den virtuellen Raum nach Indizien für „Einmischungen“ in das geheiligte Wirken freier Märkte durchforstet. Die Ideologie dahinter entstammt jedoch keineswegs dem Rand des politischen Spektrums, sondern repräsentiert die vorherrschende Ansicht der Regierungen in den USA und Australien.
Für Bingos wäre es relativ einfach, dies als Beweis für ihre Position in der Mitte aufzufassen, für ihre Rolle als „Dritte Kraft“, die geschickt einen von Politik und Regierungen unabhängigen „Dritten Weg“ entlangsteuert. Leider könnte es sein, dass ein solcher Weg nicht existiert. Tatsächlich verwandelt er sich zusehends in einen Abgrund – dafür sorgt die Globalisierung mit den immer tieferen Spaltungen, die sie hervorbringt. Wer versucht, einen Fuß auf beiden Seiten zu haben, läuft Gefahr, hinein zu stürzen.
Welche Bedeutung hätte es, wenn es so wäre? Für Bingos, die ohnehin vollauf zufrieden damit sind, ihre Zelte auf der sicheren Seite der Konzerninteressen aufzuschlagen, natürlich keine. Aber für die anderen, die nach wie vor das Vertrauen von Millionen von SpenderInnen und Begünstigten genießen, eine ziemlich große. Sie könnten – müssten – einen scharfen Kurswechsel in Betracht ziehen. Zumindest drei neue Reiseziele zeichnen sich deutlich ab.
Nummer Eins betrifft die Kultur. Dass Bingos hierarchisch, autoritär, unternehmensähnlich organisiert sein müssten, ist nicht in Stein gemeißelt. In der Regel wird dafür nur ein Argument vorgebracht: Größe. Es gäbe keinen anderen bekannten Weg, derart große Organisationen zu verwalten. Nun gut, dann sollen sie eben einen erfinden, und wenn sie das nicht schaffen, sich in kleinere Einheiten unterteilen. Bingos wären dann näher an den Organisationsformen der „sozialen Bewegungen“, die den Kern der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit darstellen und mit welchen sie ohnehin kooperieren müssen, wenn sie überhaupt zu etwas gut sein sollen.
Das zweite betrifft die Finanzen. Dass es für die begünstigten Menschen oder Anliegen umso besser wäre, je mehr Geld eine Bingo hat, ist nicht zwingend. Eine Neubewertung der tatsächlichen Kosten, die den Begünstigten aus den Steuervorteilen einer „wohltätigen“ oder „gemeinnützigen“ Organisation entsteht, ist längst überfällig. Manche Organisationen wie Amnesty International sind [im angelsächsischen Raum] nicht als „wohltätig“ anerkannt und stehen, wie durchaus behauptet werden könnte, ohne diesen Status weit gesünder da.
Nummer Drei betrifft die Politik. Bingos sind, ob zum Guten oder zum Schlechten, zu wichtigen politischen Akteuren geworden. Ohne den Ballast der Unternehmenskultur und des Status einer wohltätigen Organisation könnten sie eine konstruktivere Rolle spielen. Vermeidbare Hungersnöte, vermeidbare Krankheiten und vorhersagbare Katastrophen sind höchst politische Ereignisse. Sie passieren zu einem Gutteil deshalb, weil Menschen gezwungen werden, den giftigen Cocktail aus freier Marktwirtschaft und Pseudodemokratie zu schlucken, der von einer Globalisierung im Interesse der Konzerne und einer neoliberalen Politik gemixt wird. Das Gebräu stammt aus den reichen Ländern, wo beinahe alle Bingos zu Hause sind. Gut möglich, dass die Anwendung eines Gegenmittels zu Hause letztlich zu ihrem Untergang führen würde. Andererseits: Sollte es nicht angeblich genau darauf hinauslaufen?
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1) American Institute of Philantropy, www.charitywatch.org
2) www.un.org
3) The Charity Commission, www.charity-commission.gov.uk
4) Australian Council for International Development, www.acfid.asn.au
5) Catherine Barton: Aid and Development: A Cambodian Case Study, Cambridge University 2005
6) In Anspielung auf die Aufteilung Afrikas bei der Berliner Konferenz 1884/85
7) Lee A. Casey und David B. Rivkin, The National Interest, No 79, Spring 2005